Es liegt nun zwar schon einige Jahre zurück, dass ich meine erste Fahrstunde absolvierte, aber einen detailierten Erlebnisbericht möchte ich euch trotz alledem nicht vorenthalten.
ZitatAlles anzeigenLange hatte ich auf meine erste Fahrstunde gewartet. Heute lief ich ihr entgegen. Durchs Morgengrauen. Die Hähne hatten gerade mal so ausgekräht. Ich lief. Meine Knie zitterten. Mein Herz schlug die Trommel dazu.
Die Strassen waren voller Verkehrszeichen: ganze Wälder von Verkehrszeichen. Emsig repetierte ich die erregenden Symbole. Mir war alles schon in Fleisch und Blut übergegangen. Und das Auto war angezahlt: 2000 Schachteln f6. Bald gab es wieder einen Luftverschmutzer mehr. Besser wäre es natürlich gewesen, einen sauberen, grünblättrigen Baum anzuschaffen. Doch Bäume stehen überall kostenlos herum. Sie mögen angenehme Burschen sein, aber mit Bäumen kann man nicht nach Köln reisen, und vor allem: man kann nicht mit ihnen renommieren! Ich habe einen Baum – was soll das? Aber: Ich habe einen Audi! Das ist schon was anderes, he?
Als ich an der Fahrschule anlangte, kam eben mein Fahrlehrer um die Kurve geprescht, machte eine elegante Wende, setzte in raffinierter Pausenlosigkeit zurück und stand: stand wie ein Fels in der Brandung. Das sah höchst einfach aus. Ähnliches wollte ich dem Fahrlehrer auch schon bald nonchalant auf den Asphalt zaubern. Autofahren war doch eine Spielerei! Kinderhandwerk!
„Na denn ma los, Fräuleinchen!“ Der Fahrlehrer holte mich in die Wirklichkeit zurück, rutschte nach rechts und forderte mich auf, Platz zu nehmen.
„Vor dem Fahrrad?“, fragte ich. „Hinter dem Lenkrad!“, verbesserte mich der Fahrer. Ich kroch ins Auto. Natürlich Lenkrad! Ein peinlicher Patzer! Der Fahrlehrer war ein stämmiger Bursche mit dicken, behaarten Armen. Ein georgischer Athlet plus etwas Orang-Utan. Frank Mehlich, Ingenieur, hieß er. Ich kam mir ziemlich fade vor mit meinem zierlichen Körperchen und den schmalen Armen. Nun hätte ich Mehlich mit wacher Intelligenz schlagen können, aber was passierte mir gleich am Anfang? Fahrrad! Das wollte ich rasch wieder auswetzen.
Der Fahrlehrer sprach ziemlich schnell: „Also, hier, das ist das Gaspedal, ge, und dort in der Mitte die Bremse und links die Kupplung, und dieser Knauf ist die Gangschaltung: der erste Gang links oben, ge, hier vorn, der zweite unten, unten vorn, also bei ihnen, der dritte Gang sitzt in der Mitte oben, und den vierten Gang haben wir hier hinten in der Mitte, beziehungsweise unten in der Mitte. Der Rückwärtsgang kommt später.“
„Warum?“ fragte ich an dieser Stelle. Ich hatte mir fest vorgenommen, mir über jeden Fakt die nötige Klarheit zu verschaffen. „Weil wir erst mal genug Gänge haben!“ sprach der Fahrlehrer energisch.
Ich lächelte. Gerade das Gangschalten hatte ich zwei Jahre lang intensiv im Geiste geübt. Manchmal vor dem Einschlafen, wäre ich sogar fast verrückt geworden darüber. Meinetwegen hätte es heute Gänge zu Tausenden geben können. Doch ich ließ nicht so schnell locker und stellte noch gleich eine Sachfrage: „Beim Unterbrechen der Zündspule des Primärstromkreises bricht doch in der Zündspule jedes Mal das vorher gebildete Magnetfeld zusammen, Herr Mehlich?“ Der Fahrlehrer nickte misstrauisch. „Hat man das fotografiert, wie das Magnetfeld zusammenbricht, oder weiß man das?“
Der Fahrlehrer, Ingenieur Frank Mehlich, blickte mir längere Zeit prüfend in die Pupillen. Dann sagte er mit dunkler Stimme: „Ruhig Blut, Fräulein, ruhig Blut, nicht so flattern! Wir machen des so: Sie treten die Kupplung, ge, schalten den Motor ein, indem sie den Zündschlüssel – hier ist er; nein, nicht an der Wagentür, hier vor ihrer Nase – indem sie denselben rechts herum drehen, ge. Nun haben sie den Motor eingeschaltet, und dieser läuft wenn er läuft, ge. Jetzt läuft er beispielsweise. Man kann’s hören. Das ist des Schöne am Motor: Man kann ihn hören. Hören sie’s? Jut, sie hören’s. Denn tun sie immerhin schon was. Nun legen wir also den ersten Gang ein – langsam, langsam! Kupplung treten! Blinken links – nein nicht mit diesem Hebel blinken, das misslingt. Links der Hebel ist des. Nach unten drücken! Aua, das tat weh! So, und jetzt Obacht Männer! Jetzt lösen wir die Handbremse. Aua, das tat weh! Das darf nicht so schnarren, Mann! Nu lassen wir die Kupplung kommen bis sie anschlägt. Merken sie’s? Nee? Nicht? Jut, sie werden’s schon noch merken, wenn sie’s merken, und mancher merkt es nie. Jedenfalls ist jetzt die Kupplung auf dem Punkt, wo wir Gas geben. Drücken sie den Gashebel! Nicht mit der Hand, Mann, mit dem Fuß, dem Fuß! Aua, das tat weh! Aber das kultivieren wir noch. In den Rückspiegel gucken, in den Rückspiegel gucken! So und jetzt die Kupplung weiter kommen lassen – aua, das tat weh! – na sehen sie, es fährt!“
„Wer fährt?“ fragte ich neugierig. „Sie fahren!“ sagte der Fahrlehrer. Ich verkrampfte mich sofort ängstlich in’s Lenkrad Die Kiste fuhr wirklich! Das war ja kaum zu glauben. Sie hatte doch eben noch gestanden.
„Blinker weg!“ rief der Fahrlehrer. In rasender Eile drückte ich den Blinker nach oben und klammerte mich wieder ans Steuerrad.
‚Der Meteoritenschwarm wird stärker! Wir müssen durch, Commodore Ida! Volle Pulle!’
„Gas geben nicht vergessen!“ sagte der Fahrlehrer. Ich steuerte wie eine Verzweifelte. Höchst wahrscheinlich war der Wagen defekt. Immer rechts ran wollte das blöde Auto: sich an den Häuserwänden scharren wie ein Elefant, dem die Flanke juckt.
Eisiger Schweiß brach mir aus allen Poren. Mir schien, dass auch der Wagen schwitzte. Der Fahrlehrer schwitzte nicht, obwohl wir mindestens achtzig fuhren. Er sagte: „So, jetzt legen wir mal den zweiten Gang ein, denn wir haben die nötige Beschleunigung!“ Ich warf einen kurzen Blick auf das Tachometer. Es pendelte zwischen 15 und 20 Stundenkilometern. Auch das Tachometer musste kaputt sein. Dieser Wagen war ein Wrack. Generationen von Fahrschülern hatten ihn zerfleischt.
Ich wollte weinen, klagen, schreien. Aber immer wenn ich den Mund aufmachte, begann der Wagen wie verrückt zu schlingern. Es schien eine direkte Verbindung von Mund zu den Vorderrädern zu geben, eine Art Seilzug.
„Aua, das tat weh!“ sagte der Fahrlehrer wenn wir durch ein Schlagloch donnerten. Ich trat erregt die Kupplung und legte den zweiten Gang ein. Es rasselte laut im Getriebe. „Aua, das tat weh!“ sagte der Fahrlehrer. Plötzlich heulte es auf. Der Wagen wollte platzen. ‚Aua, das tat weh’, dachte ich, denn Texte lerne ich schnell. „Gas weg, Gas weg!“ schrie der Fahrlehrer. „Erst die Kupplung kommen lassen dann Gas geben! Mensch, zittern ihnen aber die Knie, so was hab ich ja noch nie gesehen! Ruhig Gas geben! Ja, so ist’s richtig, wenn auch falsch!“
Der hatte gut reden. Mit vierzehn Jahren hätte er schon seinen ersten Benzinmotor gebaut, erzählte er, Frank Diesel! Wir fuhren geradeaus, immer geradeaus. Eine lange Strasse. Ein Radfahrer kam uns entgegen. Immer näher kam er, immer näher. „Sie sind also Krankenschwester?“ fragte der Fahrlehrer.
„Nein!“ sagte ich, denn irgendetwas musste der verdammte Radfahrer ja nun mal machen. „Aber in ihrem Antrag steht doch...“ „Doch, doch, ich bin Krankenschwester“, rief ich, „aber der Wagen fährt zu schnell!“ Der Radfahrer war wie vom Erdboden verschwunden. „Sie müssen das Lenkrad nicht so fest anfassen“, sagte der Fahrlehrer. „Und Abstand halten. Gucken sie mal in den Rückspiegel, wie der Radfahrer hinter uns die Fäuste schwingt! – Jetzt biegen wir nach rechts ab.“
Sofort begann ich mit dem rechten Arm herumzufuchteln. „Dafür ist der Blinker da!“ sagte der Fahrlehrer beruhigend. Es wurden von Minute zu Minute mehr Bedienungshebel, musste ich feststellen. Strasse kam nach Strasse, Kurve nach Kurve. Alles mächtig eng und kurz. Eine Gegend mit besonders kleinen Straßen. Wahrscheinlich hinter den sieben Bergen. Gleich würden die sieben Zwerge aufkreuzen. „Aua, das tat weh!“ rief der Fahrlehrer zuweilen, und ich musste unentwegt blinken oder Dinge tun, die ich nicht tun wollte. So ein Auto ist ein ziemlich störrisches Wesen. Außerdem waren überall Fußgänger die man beschimpfen musste.
Auf der Landstrasse, als gerade mal kein Fahrzeug kam und die Strasse sich schnurgerade und schlaglochfrei in den fernen Horizont schob, als wir fünfzig fuhren und der Motor, das jaulende Ungetüm, ganz ruhig und satt brummte und die tausend Hebel nichts von mir wollten, da konnte ich endlich aus meiner ungeheuren Konzentration heraus ganz schnell sagen: „Angenehmes fahren heute!“ Wir mussten wohl schon bald in Bremen, Nowgorod oder Kleinleppersdorf sein. Da sagte der Fahrlehrer: „So jetzt blinken wir rechts und halten an.“ Und da waren wir wieder an der Fahrschule.
„Das war ja schon ganz ordentlich!“ sprach der Fahrlehrer, Ingenieur Frank Mehlich. „Ja“, krächzte ich heiser und warf mir eine Lulle zwischen die bebenden Beißer. „Ja“, sagte ich und tat einen tiefen Zug. Dann schwankte ich der Bushaltestelle zu, mit weichen Kniekehlen, ein winziger Mensch aus Fleisch und Blut und Gedanken, der eben einen tausendarmigen Riesen namens Golf bezwungen hatte. Noch im Bus kuppelte ich ein und aus. Die Fahrgäste blickten mich bewundernd an, mich, die künftige Meisterfahrerin.
Verkehrszeichen hatte ich übrigens während der ganzen Fahrstunde nicht gesehen. Kein einziges. Und keiner hatte mir gesagt, dass Autofahren auf die Augen geht. Es musste aber wohl so sein.
Wie ihr sicher gemerkt habt, handelte diese Erzählung nicht von meiner ersten Fahrstunde. Trotzdem wollte ich euch diesen herrlichen, in Zynismus getränkten Bericht nicht vorenthalten.
Meine erste Fahrstunde verlief ähnlich schrecklich, wenn auch nicht so furios. Als erstes erklärte mir mein Fahrlehrer, dass Autofahren eine Philosophie sei. Es wäre mehr, als Gas geben. Man müsse es lieben, um es richtig zu beherrschen. Das schlimme war, dass er das wohl wirklich ernst zu meinen schien. Wie dem auch sei, das erste mal Anfahren funktionierte soweit ganz gut und schon bald befand ich mich mitten in der Hauptverkehrszeit. Trotzdem, so erklärte mir mein Fahrleherer, wäre ich in der ersten Fahrstunde sehr gut gefahren.
Meine Prüfung absolvierte ich 15 Fahrstunden später ohne größere Probleme. Hätte mir mein Fahrleherer allerdings nicht kurz vor einer Ampel einen heftigen Tritt gegeben, wäre ich wohl über jene Ampel, die rot anzeigte, gefahren.
Habt ihr den Führerschein schon? Hattet ihr tolle Erlebnisse in den Fahrstunden?
Mit einem Peugeot durch die Gegend fahrend,
Stephan Münzing