Um mal wieder etwas zum Forum beizusteuern, hier ein "kurzer" Beitrag aus meinem Blog mit allgemeinem Animationsthema. Ich weiß nicht, ob es hier für jemanden von Interesse ist. Wer mehr vom folgenden Thema versteht, als ich (und dazu braucht es nicht viel) kann mich gerne korrigieren.
Hier also ein längerer Textbeitrag in hoffentlich guter CP-Faseltradition. Mal sehen, ob jemand das eher ziellose Gefasel auch bis zum Schluß durchsteht. Wenn mir selbst schon nichts Kreatives zum Seriengeschäft mehr einfällt, sehen wir uns doch mal an, was anderen Leuten (selbst in der heutigen Zeit) im Animationsbereich noch so einfällt. Und ich werde vielleicht (vielleicht) sogar irgendetwas dezent Nettes über das 21. Jahrhundert dazu sagen können.
Werfen wir also mal einen Blick auf ein Thema, daß in gewisser Weise ja schon öfter vorkam: die modernen japanischen Zeichentrickserien bzw. Anime mit all ihren seltsamen Blüten und vielfältigen Themenspektren. Ich gebe zu, daß mich gewisse Aspekte des Themas einerseits interessieren, ich viele Aspekte des Massenphänomens andererseits aber auch sehr (zeitgeist)kritisch sehe.
Nun ist Anime-Fandom in der heutigen Zeit natürlich ein beliebtes Modephänomen geworden, und 12-jährige Naruto-Fans und RTL2-Gucker sind automatisch die größten Anime-Experten und nennen sich dann halt Fuchikochi-San und Mukihiro-Chun auf hippen Fanboards (was natürlich besser klingt als Lieschen Müller aus Bottrop). Alles hübsch bunt, grell, hektisch, kommerzialisiert, "sexy" und am Besten natürlich medial in Massen verfügbar. Ein Blick auf angesagte Fanfiktion zu derlei Serien dürfte einen vermutlich an der Menschheit verzweifeln lassen. Eigentlich sollte ich also einen großen Bogen um die Sache machen, um nicht der Zuwendung an den etablierten Zeitgeist verdächtig zu werden ;-).
Anime-Fandom ist somit sicherlich ein sehr typisches Popkultur-Phänomen des 21. Jahrhunderts. Und damit meine ich sogar weniger den oft kunterbunten und HD-digital gestützten Stil moderner Serien, sondern mehr deren Massennatur und Omnipräsenz. In einer japanischen TV-Season werden jedes Jahr Dutzende neuer Trickserien produziert (darunter sicherlich viel Reißbrett und Fließband) und zu Hunderten und Aberhunderten bestehender Serien hinzugefügt. Die ganze Sache ist somit natürlich stark von Klischees und Standardschablonen beeinflußt. Welche echte Chance auf Bedeutung und Substanz hat da noch die individuelle Serie, Folge oder Charakter? Wobei Letzteres natürlich auch besonders schwer ist, weil Charaktere oft auch noch fast gleich aussehen, klingen und in stereotype Schablonen und Plotmuster gehören.
Und stereotype Plotmuster heißt dann gerne mal pubertäre Allmachtsfantasien, kalkulierte "Erotik", Kitsch, scheppernde Kämpfe mit Robotern und mystischem Zeugs, Krachbumm und Zerstörung. Charakter x und y stürzen sich Folge für Folge in kurze Röcke und coole Kämpfe mit und gegen mystische/technische Superkräfte. Nachdem sie den mächtigen Megaflup besiegt haben, wird er ihr Verbündeter (+/- 20 andere Nebencharaktere) und es gibt noch mehr Kämpfe. Dann suchen x, y und Megaflup nach dem gar mystischen Artefakt von Schmu und nutzen das Artefakt, um nach noch mehr Kämpfen den ultimativen Final Battle zu bestehen, und dank mystischer Transformation zu gewinnen (nicht ohne sich vorher kitschig ewige Liebe und Kampfestreue zu schwören). Und weil beim vorigen Kampf nur 10 Straßenzüge zerstört wurden, werden jetzt 25 Straßenzüge und ein Nudelrestaurant zerstört, weil es ja um das Schicksal aller 57 Universen geht. Bam. Das mag jetzt satirisch übertrieben sein, aber die Reißbrettproduktion sieht vielleicht zum Teil immer noch so aus.
Man liest in entsprechenden Foren zwar gerne auch mal emotionale Versprechen, etwa daß ein Zuschauer diesen oder jenen Charakter für wirklich einzigartig hält, oder daß eine Serie unglaublich beeindruckt hat ("The ending moved me deeply, and will stay with me forever..."), aber ich habe wegen der Massennatur einfach auch meine Zweifel an solchen Aussagen. Wenn man 400 Serien entstofflicht auf der Festplatte hat, und jede japanische TV-Season kommen 78 Serien neu dazu, welche Chance auf Dauerhaftigkeit hat eine solche Aussage?
Vielleicht tue ich den modernen Zuschauern und ihrem Rezeptionsverhalten ja auch Unrecht, aber es erscheint mir zumindest schwierig. Ich erinnere mich an eine Aussage, die zur Simpsons-Folge "Lisa´s Substitute" von 1990 in der Capsule steht - "I laughed, I cried, it became part of me." Kann man so etwas über moderne Trickserien und speziell japanische Massenproduktionen überhaupt noch sagen? Oder sind es ausgerechnet japanische Serien, die noch das Potential haben, überhaupt Subtext und Tiefe und Inspiration zu haben?
Einerseits ist die große Menge an Serien und Themen ein gewisser Garant dafür, daß auch kreative und ungewöhnliche Ideen dabei sind, andererseits werden die einzelnen Folgen durch den Massen-Output dann wieder zu einzelnen Tropfen im Ozean der Massenverfügbarkeit. Das ist IMO das große mediale Dilemma des 21. Jahrhunderts.
Früher in Kindheitstagen war mir eigentlich auch nie viel an Anime-Kram gelegen. Das waren halt diese komischen Serien mit den bunten Glubschaugen-Figuren und kalkuliertem Niedlichkeits-Kram und Kindchen-Schema, bei denen die Animationen sehr simpel waren, und sich Charaktere oft vor völlig statischen Hintergründen bewegt haben, oder Szenen und Hintergründe x-mal recycelt wurden. Kostengünstige ZDF-Auftragsarbeiten der 70er Jahre wie Heidi, Biene Maja oder Sindbad waren mir auch in jungen Jahren immer eher verkitscht-suspekt. Später lag mein persönlicher Trickserienfokus dann auch mehr bei US-Material wie He-Man, Turtles, Defenders of the Earth, Galaxy Rangers, Brave Starr oder was auch immer (Tele 5 spielregelte seinerzeit). Ein paar dezente "Grenzgänger" wie Saber Rider oder Captain Future waren zwar dabei, aber die orientierten sich doch eher an westlichen Stilen und Sehgewohnheiten.
Mit Mangas konnte ich nie etwas anfangen - und kann es bis heute nicht. Die Überstilisierung, schwarzweiße Hektik und auch die umgekehrte Leserichtung stören mich. So ist das halt, wenn man comicmäßig meist mit Disney und Barks, Rolf Kauka und frankobelgischem Kram aufgewachsen ist. Vor Jahren wurde mir mal nahegelegt, daß ich mir doch "Neon Genesis Evangelion" als Anime auf Schnickschnackscheiberei ansehen soll, die Serie wäre ja voll komplex und genial. Tja, auch dazu fehlte mir wieder mal der Zugang, ich fand die ganze Serie eher befremdlich, als irgendwie bewegend oder ansprechend. Gerade auch die ständige Übersexualisierung von 14-jährigen Kindern fand ich arg obskur. Mit dem ganzen RTL2-Merchandise-Kram Marke Yu Gi Oh, Pokemon, Naruto und Co (oder was immer gerade läuft, ich habe ja keinen Fernseher) kann ich auch nix anfangen.
Tja, aber was will ich nun eigentlich sagen? Oben schreibe ich von einem gewissen Interesse am Thema Anime, danach lästere ich nur darüber, wie wenig mir die Serien, ihre Massennatur und ihre Klischees zusagen, und wie befremdlich vieles daran ist. Warum verkrieche ich mich dann nicht einfach in der Vergangenheit, und gucke olle US-Cartoons aus den 50er Jahren, um nicht von der Gegenwart belästigt zu werden? Es gibt doch so viele kreative und gedanklich fordernde Möglichkeiten, einen Koyoten in eine Schlucht fallen zu lassen ;-).
Was mein Interesse zu dem Thema verspätet geweckt hatte, waren vor einiger Zeit sicherlich die Filme von Hayao Miyazaki: Das Schloß des Cagliostro, Nausicaa, Mein Nachbar Totoro, Laputa (ein etwas ungünstiger Name für den spanischen Markt ;-)) und andere mehr. Das waren Filme, die zeigten, daß es im japanischen Zeichentrickfilm auch um andere Dinge gehen kann, als konstruierte Niedlichkeiten, heiße Unterhöschen und Superkämpfe angefüllt mit pubertären Allmachts- und Sexualfantasien. Da war plötzlich ein echter Subtext, eine poetische Qualität und Kreativität, und der seltene Aspekt, daß ein Trickfilm/Trickserie immer auch mehr sein kann, als die Summe seiner Teile. Es kam mir natürlich sehr entgegen, daß diese Filme alle aus den 70er und 80er Jahren stammen, und ich könnte die bequeme Schlußfolgerung ziehen, daß früher einfach alles besser war.
Vor einer Weile wollte ich mir aber auch mal einen Blick auf den gerade aktuellen Output japanischer Serienproduktion gönnen, sprich auf die Season 2012 und ihre Serien. Das ist natürlich hilfreich, um die aktuelle Situation einzuschätzen, und sich eine Meinung zu bilden. Es ist ja wohl auch so, daß das RTL2-Programm nicht repräsentativ ist, da wirklich gute Serien vermutlich kaum nach Deutschland kommen. Man muß dazu also tatsächlich zum oft gewöhnungsbedürftigen Originalton mit englischen Untertiteln greifen (und hoffen, daß diese einigermaßen korrekt sind). Man lernt zumindest Japanisch dabei. So kenne ich jetzt das japanische Wort für Idiot ("Baka") - es wird in vielen Serien gerne und häufig verwendet.
Ich wollte bzw. konnte auch keinen digitalen Massenkonsum anfangen, sondern einfach mal einen stichprobenmäßigen Blick auf aktuelle Hypes, Geheimtipps oder zufällige Genre-Auswahl werfen. Dafür braucht man natürlich keine aktuelle Technik, das geht auch mit 20 Jahre alter Technik ganz ohne Probleme. Würde mir jemand glauben, daß ich Folgen auf Magnetband habe? Oder kein Gerät neuer als 1996 zum Gucken brauche? Zum Teil habe ich nur kurz reingeguckt, ganz komplett habe ich mir am Ende dann drei Serien von 2012 angesehen (wobei eine davon als "Ecchi"-Serie dann doch so peinlich ist, daß ich sie namentlich nicht erwähnen möchte - obwohl es sogar in dem Genre so etwas wie Handlung und Charakterisierung gibt. Man fasst es nicht ;-))
Die erste ausprobierte Serie war gleich mal enttäuschend, zumal sich um diese noch eine Riesenhype als angeblich beste (?) Anime-Serie aktueller Jahre gedreht hat. Ich meine die mit 25 Folgen IMO völlig überdehnte "Sword Art Online". Eine gewisse Glorifizierung moderner Technik und digitalen Fortschritts ist ja gerade in Japan üblich, aber SAO funktioniert auf so vielen Ebenen nicht wirklich. Die Mentalitäten und Ideologien hinter der Story sind IMO fragwürdig und manipulativ, die meisten Hauptcharaktere relativ flach und unsympathisch, die Dialoge oft unglaublich kitschig und schwülstig. Die Serie nimmt sich einerseits wohl äußerst wichtig, ist auf der anderen Seite aber randvoll mit Stereotypen, Logikfehlern und Plotlöchern. Meh.
Trotz der "Gewichtigkeit" wirkt es auf mich, als wäre bei SAO fast alles nur Oberfläche und fast nichts Subtext oder Tiefgang. Die prinzipielle Idee von wirklich fantastischen Szenarien wird völlig banalisiert und trivialisiert, es fehlt einfach an "sense of wonder". Es mag an mir (und meiner Technologiekritik) liegen, aber wenn das wirklich die beste Serie des Jahres sein soll, dann fehlt mir wieder der Zugang zum Genre. Sogar die ziemlich schräge Ecchi-Serie war mir sympathischer.
Eher durch Zufall fand ich dann aber doch noch eine Serie, die ich weitaus ansprechender und visuell und inhaltlich kreativer fand, und die mit den in Japan so üblichen 12 Folgen (inoffiziell 13 Folgen) auch nicht überdehnt ist: "Tasogare Otome x Amnesia" bzw "Dusk Maiden of Amnesia". Ich hatte zuerst gezögert, weil die Serie als Horror klassifiziert war, und japanischer Horror ja dafür bekannt ist, oft ziemlich derb zu sein. Die Einstufung war eher falsch. Es ist zwar eine Geistergeschichte, aber eine, die auch mit Humor und Tiefgang die Konventionen des ganzen Genres (und des Aberglaubens an sich) dekonstruiert und von einem gewissen Pragmatismus zum Thema durchdrungen ist. A ghost story to end all ghost stories sozusagen.
Und bevor ich betone, daß diese Serie anders als andere Anime-Serien (oder die klischeebeladene Massenproduktion) ist: Ja, es kommen einige sexuell überladene Storyelemente vor. Ja, es kommen einige kindische Gags über große und kleine Oberweiten vor. Ja, es gibt Stereotypen und einen nervig-schrillen Nebencharakter. Ja, die eigentliche Handlung und das "Mysterium" an sich sind nicht sonderlich kompliziert bzw. mit manch Plotlöchern, und man kommt schnell auf die Antwort. Ja, es gibt schwache Folgen und einen merklichen Durchhänger um Folge 5 und 6 herum. Und dennoch...
Im Unterschied zur Oberflächlichkeit von SAO gibt es eine ganze Menge Subtext zu einer Vielzahl von Themen und komplexen Fragen der Welt wie Wahrnehmung, Kommunikation, Mythenbildung, Erinnerung, Isolation, Einsamkeit, Verdrängung, Wurzeln von Angst und Aberglauben, speziell natürlich des Glaubens an Flüche und anderes Unheil in Japan. Dekonstruktion von Aberglauben und die Wurzeln und Folgen von Furcht und Irrationalität sind ein roter Faden der Handlung.
Und obwohl es nicht die Hauptlinie der Handlung ist, sind die Themen Realität, Wahrnehmungen und Kommunikation stets im Subtext präsent. Daneben gibt es noch eine echte Charakterhandlung, Humor und eine wunderbare visuelle und akustische Umsetzung (jepp, die visuellen Möglichkeiten im 21. Jahrhundert sehen möglicherweise etwas besser aus, als in den 70er Jahren im ZDF-Anime). Mit Musik und Songs im Anime habe ich wegen oft piepsendem J-Pop auch Probleme, aber hier ist es akustisch sehr gelungen - der Abspannsong klingt IMO sogar etwas nach Tim Burton.
Und trotz einiger Standardmuster gibt es genug Abweichungen vom Schema F. Das ist z.B. meine erste Animeserie, in der die Schule der Charaktere kein grauer Glas-Beton-Klotz ist, sondern eine verfallene und verwinkelte Bruchbude (die auch metaphorisch zu sehen ist). Gerade das Alte wird als erhaltenswert betont. Der Fokus bleibt auf nur vier Charakteren, wir haben also nicht mal eben +/- 20 Nebencharaktere nach den ersten 3 Folgen. Was auch gut so ist, wie die relativ mißglückte Folge 6 zeigt, alle anderen Nebencharaktere scheinen nämlich "Baka" in Reinkultur zu sein.
Visuell wird einerseits ein verwinkelter und verschrobener Realismus betont, andererseits hat das Szenario stets einen traumartigen Nebenklang, wie z.B. der seltsam "flache" Mond am Himmel. Eine dezent unwirklich-surreale Atmosphäre durchdringt die ganze Handlung, trotz ihres Pragmatismus. "It was all just an illusion..." sagt ein Charakter ganz am Ende der Serie (nur um kurz darauf festzustellen, daß es doch nicht so einfach ist). Ein "sense of wonder" ist für mich jedenfalls weit greifbarer, als in den Technikhuldigungen und Kloppereien anderer Serien. Das mag ein etwas schwammiger Begriff sein, aber er kommt mir als Mangel bei "SAO" und als Lob für "Tasogare" am ehesten in den Sinn.
Ganz am Rande: ein ungewohnter Aspekt der japanischen Kultur tritt im Originalton hier auch noch deutlicher zutage: die Charaktere sprechen sich in der Regel stets mit Nachnamen an, auch wenn sie Freunde sind (der Nachname wird ja auch zuerst genannt). Jemandem direkt mit dem Vornamen anzusprechen, braucht schon besondere Gründe, und ist ansonsten ein sozialer Fauxpas bzw. wird mit Irritation auf diese Bitte reagiert. Aber sei es drum. Ich spreche einfach mal eine kleine Empfehlung für die Serie aus. Der Titel nochmal: "Tasogare Otome x Amnesia" bzw "Dusk Maiden of Amnesia". Für den modernen Menschen sollte das Rankommen an Folgen ja kein Problem sein. Es gibt offiziell 12 Episoden, inoffiziell noch eine 13. Episode, die aber ziemlicher Quark ist und ignoriert werden kann.
Natürlich gibt es auch zu dieser Serie wieder online bewegte Meinungen wie "The atmosphere of episode 12 will haunt me forever..." aber wie gesagt: mit Blick auf die mediale Überflußgesellschaft sehe ich solche Aussagen immer skeptisch. Vielleicht gibt es am Ende doch eine Chance dafür. Folge 12 hat zumindest IMO alle Qualitäten dazu.
Nun denn, das sollte als langer Faselbeitrag durchgehen. Etwas nebenher geschrieben, einen Pulitzerpreis gewinne ich damit sicher nicht. Aber egal. Das sollte es jetzt auch zum Thema sein. Vermutlich hat sowieso niemand bis hierher mitgelesen (ganz wie in drts-Tagen) aber mein Faselauftrag ist erfüllt.
Falls jemand Meinungen zum Thema hat (oder mehr davon versteht, als ich), dann gerne her damit.
Chris