Jetzt habe ich urlaubsbedingt doch schon länger keinen Beitrag mehr geschrieben, daher hier mal was gerade frisch verfasstes. Ich weiß nicht, ob die Argumentation funktioniert oder nachvollziehbar ist, aber ich versuche es einfach mal. Bitte nicht zuviel davon erwarten, der Text ist nur auf die Schnelle geschrieben.
Eine interessante (aber IMO oft eher wenig beachtete) Facette des starken Qualitätsverlustes der Serie ist ihre heutzutage sehr "hermetische" Natur im Bezug auf Rand- und Nebencharaktere. Ich habe das Thema kürzlich schon in der "Summer of 4 Ft 2"-Parodie gestreift, als sich die Strandnachbarn der Simpsons als altbekannte Gesichter aus Springfield herausstellen.
Gerade in den ersten Jahren 1990/1991 stand der Serie ein ganzer Kosmos an Randfiguren offen, die halfen, die Hauptakteure in eine "lebendige" Welt einzubetten. Andere Orte und andere Zeiten brachten auch andere Nebencharaktere, was wiederum unterstrich, daß wir uns nicht in der geschlossenen Welt einer Sitcom mit limitiertem Personenkreis oder gar eines Standard-Cartoons befanden. Und das Potential dieser frischen Idee - dieses offenen Universums - war immens.
Die Charaktere konnten in die Welt hinausgehen und sie konnten dort neue Personen treffen, die in dieser Welt "lebten". Springfield war trotz seiner Cartoon-Natur auch eine größere Welt, in der mehr Menschen lebten, als nur beispielsweise 12 Standardfiguren aus einem Sitcom-Repertoire. Und wenn die Gesichter in den Passantenmassen manchmal ein wenig grotesk aussahen, dann gehörte auch das dazu.
Als schönes Beispiel für bemerkenswerte Nebenfiguren kommt mir immer die Frau in den Sinn, die Lisa in "Lisa´s Substitute" sagt, daß Mr. Bergstrom nicht mehr hier wohnt. Sie hat keinen Namen, sie ist nicht Lindsay Neagle, nicht Ralph Wiggum mit Perücke und sie bewirft Lisa auch nicht brabbelnd mit Katzen. Sie ist einfach nur ein Mensch aus Springfield und sie sagt in der Szene mehr, als sie eigentlich sagen müsste.
Irgendwann im Laufe der Jahre (sicherlich spätestens ab Staffel 9) verloren die Macher jedoch IMO das Interesse am weitläufigeren Universum der frühen Serie. Szenen wurden mehr und mehr mit altbekannten Zeichenschablonen und Standardfiguren bevölkert, die eben Homer die Gags zuspielen sollten. Heutzutage würde es nicht sonderlich auffallen, wenn die Simpsons an anderen Orten oder anderen Zeiten wären, dort eine Tür öffnen, und eben Moe oder Ralph oder Nelson oder die allseits beliebte crazy cat lady für einen Gag in die Szene treten würden.
Eventuell war auch schon die brillante "Summer of 4 Ft 2" die letzte der wirklich großen non-hermetischen Folgen (und das sowohl im Bezug auf Offenheit der gezeichneten Welt, als auch im Bezug auf Offenheit der Interpretation).
Klassisches Beispiel: in Staffel 2 und "The Way We Was" wird für den Rückblick nach 1974 eine eigene Welt und ein eigener Zeitkolorit entworfen. Einige bekannte Gesichter im Zentrum, aber ansonsten viele "neue" Personen, die eben zu einem damaligen Umfeld gehören: Schüler, Freunde, Lehrer, Gäste beim Abschlußball, unbekannte Gesichter auf dem Schulhof. Springfield High im Jahr 1974.
Gegenbeispiel: in Staffel 15 und der IMO überschätzten "The Way We Weren´t" kommt Homer als Kind in ein Feriencamp. Wen trifft er dort? Carl und Lenny und Moe und Marge und den Sea Captain usw. Dann gerät er in ein Fat Camp. Wen trifft er dort? Die jungen Abziehbilder von Chief Wiggum, CBG, Quimby usw. Warum? Was gewinnt die Folge dadurch bzw. vielmehr was verliert sie?
Aktuell wurde mir das Problem wieder bewußt, als ich dieser Tage eine Folge aus Staffel 21 sah - irgendein inhaltlicher Einheitsbrei mit Homer und Carl in Paris. Eine Szene fiel mir jedoch auf - und zwar Homer, der vom Flughafen Springfield aus bei Carl anruft. Homer steht an der Gepäckannahme, neben ihm stehen vier Springfielder Passanten. Springfielder Passanten? Neben ihm stehen grundlos Agnes und Seymour Skinner und Kirk und LuAnn Van Houten.
Man sollte sich diese Entwicklung vor Augen halten, denn sie ist eine kleine Facette, die am Detail aufzeigt, wieviel an Potential und Einzigartigkeit der frühen Jahre verschwunden ist. Und wenn man das nächste Mal Werbesprüche hört über den großen Figurenkosmos der heutigen Serie, über den "cast of thousands", der die Simpsons unterstützt, dann sollte man eventuell die berühmte Frage von Enrico Fermi zweckentfremden, der da sagte "Wo sind sie denn alle?".
Chris